(November 2025)
„Wer wirklich schützen will, muss die Realität anerkennen: Sexarbeit existiert“, stellt Birgit Reiche fest. Die Geschäftsführerin der Evangelischen Frauenhilfe in Westfalen verantwortet die Arbeit der Prostituiertenberatungen THEODORA in Ostwestfalen-Lippe und TAMAR in Teilen Südwestfalens und im Münsterland. „Sexarbeit verschwindet nicht durch Verbote, sondern wird unsichtbarer und gefährlicher“, verdeutlicht sie und setzt hinzu: „Ein Sexkaufverbot ist Symbolpolitik – und es gefährdet genau die Menschen, die man zu schützen vorgibt.“
Die aktuelle Debatte um ein Sexkaufverbot, befeuert durch die polemischen Aussagen von Bundestagspräsidentin Julia Klöckner und Gesundheitsministerin Nina Warken, greift auf alte Narrative zurück. Begriffe wie „Puff Europas“ oder „Armutsprostitution“ werden wiederholt, ohne dass sie wissenschaftlich belastbar wären. Statt differenzierter Analyse sind moralisch aufgeladene Diskussionen an der Tagesordnung, die Sexarbeitende selbst kaum zu Wort kommen lassen.
Sexarbeitende und ihre Verbände weisen seit Jahren darauf hin, dass ein Sexkaufverbot nach nordischem Vorbild nicht zu mehr Schutz führt, sondern die Arbeit in die Illegalität verdrängt. Studien aus Schweden, Norwegen, Frankreich und Kanada zeigen: Gewalt nimmt zu, Gesundheitsversorgung verschlechtert sich, Menschenhandel geht nicht zurück. Die Weltgesundheitsorganisation, UNAIDS und Amnesty International empfehlen daher ausdrücklich die Entkriminalisierung einvernehmlicher Sexarbeit – als Schutz- und Gesundheitsstrategie.
Die oft zitierten Zahlen von „85 bis 95 Prozent Zwangsprostitution“ stammen aus Schätzungen abolitionistischer Organisationen, nicht aus empirischen Studien. Das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen hat in einer groß angelegten Befragung gezeigt, dass die Motive für Sexarbeit vielfältig sind – von ökonomischen Gründen bis hin zu bewusster Berufswahl. Eine simple Opfer-Täter-Erzählung verzerrt die Realität und entmündigt die Sexarbeitenden.
Ein Sexkaufverbot würde nicht zu mehr Schutz führen, sondern die Risiken für alle Beteiligten erheblich verschärfen. Die Kriminalisierung der Kundschaft zwingt die Arbeit in den Untergrund: Treffen finden heimlich statt, in unsicheren Umgebungen, ohne die Möglichkeit, Freier vorab zu prüfen oder klare Regeln zu verhandeln. Gerade das Screening von Kundschaft und die Vereinbarung über Kondome oder sichere Orte sind zentrale Schutzmechanismen, die durch ein Verbot massiv erschwert würden.
Hinzu kommt, dass das Vertrauen in Polizei und Hilfsstrukturen weiter sinkt, wenn Sexarbeit kriminalisiert wird. Wer Gewalt erfährt, zeigt diese seltener an – aus Angst vor Stigmatisierung oder rechtlichen Konsequenzen. Damit werden Täter gestärkt und Sexarbeitende geschwächt. Parallel dazu bleiben Programme zur beruflichen Veränderung chronisch unterfinanziert und bieten keine realistische Perspektive für diejenigen, die die Branche verlassen möchten. Statt nachhaltiger Unterstützung gibt es symbolische Angebote, die den tatsächlichen Bedarf nicht decken.
Die Folgen eines Verbots wären daher fatal: weniger Sicherheit, weniger Schutz, weniger Rechte – und ein Klima, das Gewalt und Ausbeutung begünstigt, statt sie zu bekämpfen. Wer wirklich helfen will, muss auf wissenschaftliche Erkenntnisse und die Stimmen der Sexarbeitenden hören und darf nicht auf kriminalisierende Symbolpolitik setzen.
Belgien zeigt einen anderen Weg: dort wurden Rechte für Sexarbeitende gestärkt – etwa Mutterschutz und Rentenansprüche. Das ist ein Modell, das Sicherheit und Selbstbestimmung fördert, statt Angst und Stigma. Die Stimmen von Sexarbeiter*innen und wissenschaftlichen Studien zeigen klar: Kriminalisierung führt zu mehr Gewalt, mehr Unsichtbarkeit und weniger Schutz.
Der Appell an Politik und Gesellschaft ist eindeutig: Wer wirklich schützen will, muss auf die Stimmen der Sexarbeitenden und die Erkenntnisse der Wissenschaft hören. Statt pauschaler Kriminalisierung braucht es die Stärkung von Rechten und sozialer Absicherung, damit Sexarbeitende nicht in Unsicherheit und Abhängigkeit gedrängt werden. Zwang und Menschenhandel lassen sich nicht durch Schlagworte oder Verbote bekämpfen, sondern nur durch gezielte Maßnahmen, die Täterstrukturen ins Visier nehmen und Betroffene wirksam unterstützen.
Ebenso entscheidend ist der Ausbau von Beratungsangeboten, einer verlässlichen Gesundheitsversorgung und Programmen zur beruflichen Veränderung, die tatsächlich tragen. Wer die Branche verlassen möchte, braucht realistische Perspektiven und langfristige Unterstützung – nicht symbolische Projekte ohne ausreichende Finanzierung. Nur so entsteht ein Umfeld, das Sicherheit, Selbstbestimmung und Schutz gewährleistet.
Birgit Reiche fasst daher zusammen: „Die Forderung lautet: weg von moralisch aufgeladenen Debatten, hin zu einer Politik, die Verantwortung übernimmt, differenziert handelt und die Lebensrealität der Menschen ernst nimmt.“